Eine halbe Stunde Fussmarsch zur Arbeit, eine halbe Stunde zurück, und dazwischen ein voller Tag mit der Betreuung zweier Kleinkinder – so sah Yvonne Fallers Alltag bis Ende Jahr aus. Die Kleinkindererzieherin stand mitten im Leben, sprühte vor Energie und Kreativität.
Übermüdung? Nein: Infektion
Doch dann, kurz vor dem Jahreswechsel, muss sie sich trotz aller Vorsichtsmassnahmen mit COVID-19 angesteckt haben. Beim Spielen merkte sie plötzlich, dass sie Gedächtnisprobleme hatte, und zusehends plagten sie Kopfschmerzen. Ihr erster Gedanke war, dass sie sich über die Festtage übermüdet hatte. Als Anfang Januar der Husten einsetzte, liess sie sich testen: positiv.
«Ich bin ein extrem kreativer Mensch mit unerschöpflichen Ideen. Aber das ist im Moment wie abgestellt.»
Neue Symptome tauchten auf: erhöhte Temperatur, Schüttelfrost, Geruchs- und Geschmacksverlust, immer stärkere Kopfschmerzen und ein Herzrasen, das sie aus dem Schlaf reisst. Yvonne Faller suchte telefonisch Rat bei ihrer Hausärztin. «Sie war von der Situation überfordert», erinnert sich Faller. «Sie meinte, man könne nicht viel machen. Wenn es nicht mehr gehe, solle ich ins Spital fahren.»
Gelähmte Gesichtshälfte
Nach einigen Wochen konnte Yvonne Faller plötzlich nicht mehr aufstehen. Sie dachte an einen Schlaganfall, da eine Gesichtshälfte gelähmt war. Neurologische Abklärungen ergaben eine Entzündung der Hirnanhangdrüse durch Herpes Zoster. Das Herpesvirus hatte sich in dem durch das Coronavirus geschwächten Körper aktiviert und eine Gürtelrose und Nervenschmerzen ausgelöst. Diese wurden mit Virostatika und Antiepileptika behandelt, um eine Chronifizierung zu verhindern.
Die Überreizung des Gehirns sorgte dafür, dass Yvonne Faller plötzlich überempfindlich auf Gerüche, Geräusche und Licht reagierte. Bereits minimale Auslöser können sie aus der Bahn werfen. Unterdessen kann sie nicht mehr künstlerisch tätig sein, und ein Buch zu lesen ist unmöglich. Ihre Energiereserven sind am Morgen auf gefühlten 30 Prozent, Duschen und Frühstücken brauchen die Hälfte auf, und am Mittag ist ihr Akku leer.
Übung in Gelassenheit
Was Yvonne Faller hilft, sind Yoga und Atemtherapien. Mit sanften Dehnungsübungen versucht sie sich zu beruhigen, wenn ihr Herz rast, ihr Körper zittert oder ihre Beine nachgeben. «Ich versuche, mit möglichst viel Gelassenheit die Situation anzunehmen oder das Zittern zum Beispiel als etwas Gutes, etwas Therapeutisches zu verstehen. Das hilft mir», erklärt Yvonne Faller. «Man muss seine Ansprüche herunterschrauben, kleine Erfolge feiern und sich auf das konzentrieren, was man kann.»
«Ich will gesund werden, auf die Beine kommen und fähig sein, einen normalen Tag zu gestalten.»
Zu schaffen machen Yvonne Faller nicht nur ihre Symptome, sondern auch die Reaktionen auf ihre Erkrankung. Ihr Arbeitgeber hat ihr gekündigt, und ihre Hausärztin sagt, sie könne sie nicht weiter krankschreiben. Doch an die Arbeit als Nanny ist derzeit nicht zu denken: Für ein 12-Stunden-Tag hat Yvonne Faller nicht annähernd die Energie. Die Ärztin schlug ihr vor, sich von einem Psychologen krankschreiben zu lassen. «Das kommt für mich aber nicht in Frage. Mein Leiden ist ja nicht psychisch!», betont sie.
Hoffnung in die Neurologie
Gut betreut fühlt sich Yvonne Faller von ihrer Neurologin, und bald hat sie auch einen Termin bei einem Spezialisten für chronische Erschöpfung. Sie hofft, sich endlich ernst genommen zu fühlen und Antworten auf ihre Fragen zu erhalten. Aber schon jetzt plagt sie die Sorge, wie sie überhaupt nach Chur kommen soll. «Eine längere Reise ist eine Riesenherausforderung», erzählt Yvonne Faller. «Aber ich will gesund werden, auf die Beine kommen und fähig sein, einen normalen Tag zu gestalten.»