Wenn Long COVID einen Arzt, Vater und Ehemann zur Pause zwingt

Wenn Long COVID einen Arzt, Vater und Ehemann zur Pause zwingt

Ein Jahr lang kämpfte der Kinderarzt Dr. Michael Dacher mit kognitiven Schwierigkeiten und Schwäche durch Long COVID. Den ersten Tag, an dem er wieder mit «klarem Kopf» aufwachte, wird der Arzt zukünftig wie seinen zweiten Geburtstag feiern.

Als Arzt, Vater und Ehemann für andere da sein, Unterstützung bieten und Probleme lösen – das war für Dr. Michael Dacher vor seiner Coronainfektion selbstverständlich und zentral. Der Kinderarzt war es gewohnt, 100% geben zu müssen, damit Praxis und Familie funktionieren. Das Gefühl mit den eigenen Ressourcen am Limit zu sein, war kein fremdes – man entwickelt seine Methoden, um immer wieder genügend Kraft zu tanken, zum Beispiel während der Ferien mit der Familie. Umso schwieriger ist es, wenn diese Methoden plötzlich nicht mehr ausreichen, um die Batterien wieder aufzuladen. Dr. Dacher wurde damit im Frühjahr 2022 konfrontiert. Als er sich gerade von einer ernsten Krankheit im vorangegangenen Herbst erholt hatte, infizierte er sich mit Sars-CoV-2. Nach einigen Tagen grippeähnlicher Symptome blieb die Rückkehr der Leistungsfähigkeit aus. Die körperlichen Beschwerden besserten sich, doch es blieben kognitive Einschränkungen, die sich mit einem anspruchsvollen Alltag nicht vereinbaren liessen: Der vielbeschriebene «Brain Fog» machte es dem Arzt unmöglich, sich wie zuvor einen vollen Arbeitstag lang zu konzentrieren, die Praxis zu führen und am Abend und an den Wochenenden für seine Familie da zu sein.

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Spaziergänge mit Familie und Hund halfen Dr. Dacher den Kopf freizubekommen. (Bild: privat)

Erst einige Wochen nach der akuten Infektion habe der Arzt realisiert, dass seine Beschwerden mit Covid-19 zusammenhängen mussten. Da ihm klar war, dass Praxis und Familie ihn dringend brauchten, suchte und fand er Hilfe bei seinem Hausarzt und Psychiater, die ihn ärztlich und freundschaftlich berieten und dafür sorgten, dass seine Ansprüche an den eigenen Genesungsfortschritt realistisch blieben. Der Kinderarzt habe klare Signale von seinem Körper bekommen, was geht und was nicht– sich daran auch zu halten, sei ein Lernprozess gewesen. Neben Long COVID selbst, sei die grösste Herausforderung die Kommunikation gewesen. Dem Team in der Praxis zu erklären, warum man plötzlich nicht mehr präsent sein kann, dass alte Grenzen nicht mehr gelten und sie auf unbestimmte Zeit viel abfedern müssen. Administrative Sorgen im Rücken, Löhne, die bezahlt werden müssen und anfallende Routine-Pflichten in der Praxis habe der selbstständige Arzt plötzlich radikal priorisieren und abgeben müssen. Diesen Zustand zu vermitteln, sei schwierig gewesen: «Es ist wie im Leichtathletik-Training zu sprinten und mit einem Gummiband zurückgehalten werden. Anders gesagt, in Bezug auf das Denken: Es fühlt sich an, wie einen Löffel in Honig bewegen zu müssen.»

Das Denken: Es fühlt sich an, wie einen Löffel in Honig bewegen zu müssen.

Was Dr. Michael Dacher half, war grösstmögliche Transparenz in der Kommunikation mit seinem Team und der Familie. Er habe sich immer wieder erklärt und wo möglich, mit wissenschaftlicher Evidenz unterstützt. Die Beschwerden medizinisch zu benennen, habe es häufig erleichtert: Die postvirale Encephalopathie (meist vorübergehende, immunvermittelte Beeinträchtigung des Gehirns durch das Virus) zum Beispiel, die für die Unfähigkeit sich zu konzentrieren verantwortlich ist. Die Tatsache, dass es Hypothesen gab, die seine Long COVID Symptome erklären könnten, habe es einfacher für ihn gemacht an seine Genesung zu glauben, wenn auch der Zeitrahmen schwer abzuschätzen war.

Am 8. August 2022 sei er das erste Mal nach der Infektion wieder mit klarem Kopf aufgewacht: «Diesen Tag werde ich zukünftig wie meinen zweiten Geburtstag feiern». Obwohl danach auch wieder ein paar schwierige Tage kamen, ging es ab diesem Zeitpunkt stetig aufwärts, berichtet der Arzt. Er habe sein Arbeitspensum wieder schrittweise erhöhen und sich endlich bei seinem Team und seiner Familie für den starken Rückhalt bedanken können.

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Nach Long COVID konnte sich der Arzt wieder seinen Hobbies, u.a. der Astrophotographie, widmen. (Bild: privat)

Aus seiner Mehrfachperspektive als Arbeitgeber, praktizierender Arzt und Patient, gibt Dr. Dacher anderen Betroffenen mit auf den Weg, was ihm und seiner Genesung guttat:

  • Die Signale des Körpers ernst nehmen und Grenzen akzeptieren
  • Entspannungstechniken, die ganz unterschiedlich aussehen können: z.B. autogenes Training, Yoga
  • Achtsamkeits-Momente einbauen und reflektieren was zu Fortschritten führt
  • Sport nur entsprechend der Belastbarkeit
  • Ganz bewusst den Kopf mal nicht benutzen: Bei Dr. Dacher hat z.B. das Ansehen von youtube-Tutorials zu Autoreparaturen zur kognitiven Entschleunigung und Ruhe beigetragen
  • Kommunikation: Dem Umfeld erklären, warum man gerade nicht leistungsfähig ist oder Personen hinzuziehen, die diese Funktion übernehmen können

 

Heute geht es Dr. Michael Dacher wieder deutlich besser, erzählt er. Er konnte seine Hobbies wieder aufnehmen: Neben Volleyball im Verein, beschäftigt sich der Arzt mit Astrophotographie. Daran fasziniert ihn, dass er mit einfachen Mitteln aus seinem Garten heraus Galaxien sichtbar machen kann, die dreissig oder hundert Millionen Lichtjahre entfernt sind. «Für mich relativiert es unsere täglichen Mühen und rückt sie in die richtige Perspektive.», erklärt er. Aus einer anderen Perspektive betrachtet Dr. Dacher seit Long COVID auch seine Gesundheit und das alltägliche Glück seiner Familie: «So richtig fühlen, wie angenehm es ist, gesund zu sein, das tut man halt wirklich erst, wenn es einem Mal fast genommen wurde.»